Separatisten im Siebengebirge - Schicksaltage des Rheinlandes vor 50 Jahren

Erste Folge: Ursprung eines rheinischen "Separatismus" in den letzten Monaten des Jahres 1918 - Von Rudolf Wolfgarten

Es würde ein einseitiges, unvollständiges Bild entstehen, sähe man die Kämpfe um die rheinische Separatistenbewegung nicht in einem größeren geschichtlichen Zusammenhang. Nicht immer standen nämlich die Menschen am Rhein der Errichtung einer rheinischen Republik so ablehnend gegenüber wie im Herbst des Jahres 1923. Einige Jahre zuvor hatte der Gedanke eines selbständigen Rheinstaates noch die Zustimmung einflußreicher Kreise des rheinischen Bürgertums gefunden.
Ende des Kaiserreiches im November 1918 endete der Erste Weltkrieg mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes. Die harten Bedingungen, die das Deutsche Reich als unterlegene Macht annehmen mußte, ließen für die bevorstehenden Friedensverhandlungen  weitgehende Forderungen der Siegermächte erwarten. Auf die deutsche Bevölkerung, die 1914 mit Begeisterung und Siegeszuversicht den Eintritt Deutschlands in den Krieg gefeiert hatte, wirkte der Zusammenbruch niederschmetternd. Der Glaube und das Vertrauen in die alten Autoritäten waren zutiefst erschüttert. Nach den Entbehrungen und Opfern während des Krieges
drohte dem Reich nun der offene Bürgerkrieg.

Ausgehend von der Meuterei der Hochseeflotte in Kiel breitete sich in wenigen Tagen eine Revolutionswelle über ganz Deutschland aus. Arbeiter- und Soldatenräte bildeten sich in fast allen Städten und Gemeinden. Am 9. November rief der Sozialdemokrat Scheidemann in Berlin die Republik aus, um den Plänen der Linksradikalen zuvorzukommen. Kaiser Wilhelm II. mußte abdanken.

"Rat der Volksbeauftragten"

Mitglieder der SPD und der USPD bildeten zusammen den "Rat der Volksbeauftragten", der die Regierungsgewalt übernahm und die
Verwirklichung des sozialistischen Programms ankündigte. Nach der Auffassung der sozialdemokratischen Volksbeauftragten sollte eine verfassunggebende Nationalversammlung über die staatliche Zukunft Deutschlands entscheiden. Diese Versammlung, so war man überzeugt, würde sich für eine parlamentarisch-demokratische Republik aussprechen. Gegen diese Auffassung wandten sich der kommunistische Spartakusbunt und ein Teil der USPD. Sie erstrebten eine Räterepublik nach russischem Vorbild. Die Frage Diktatur des Proletariats oder parlamentarische Demokratie stand jetzt im Reich zur Debatte. Bewaffnete Anhänger der einen oder der anderen Richtung, die durch Kundgebungen und Demonstrationen die Bevölkerung zu beeinflussen suchten, beherrschten die Straßen.

Die mehr als unsichere Lage in Berlin rief überall in Deutschland große Verwirrung hervor. Durch den Sturz der Monarchie war ein wichtiges Bindeglied weggefallen, das den deutschen Staat bisher zusammengehalten hatte. In vielen Teilen des Reiches fühlte man sich zwar nach wie vor dem deutschen Vaterland verbunden, wollte aber Berlin nicht mehr unbedingt als dessen Mittelpunkt anerkennen, zumal man befürchtete, daß eine kommunistische Diktatur die dortige verläufige Regierung verdrängen könnte.

Kampf um die Neugestaltung des Reiches

Um die Frage, wie der deutsche Staat in Zukunft gestaltet werden sollte, entbrannte ein heftiger Streit. Politiker, Wissenschaftler und Vertreter der Wirtschaft entwarfen Pläne, die man teils in der Öffentlichkeit, teils auch nur im vertrauten Kreis Gleichgesinnter diskutierte. Den Verfechtern einer bundesstaatlichen Lösung standen die Anhänger eines zentralistisch regierten Einheitsstaates gegenüber. Sehr umstritten war auch die Zukunft Preußens. Bekannte Wissenschaftler und Politiker traten für eine Aufteilung des großen preußischen Staates ein, so auch der Staatsrechtler Hugo Preuß, den der neue Reichskanzler Ebert mit dem Entwurf einer Verfassung betraut hatte. Preuß mußte später aber seine Auffassung ändern, weil er damit auf den entschiedenen Widerstand der Regierung in Berlin traf.

"Separatistische“ Bestrebungen

Durch den Streit um die staatliche Neugestaltung wurden in einigen Teilen des Reiches Bestrebungen gefördert, die den Verdacht erweckten, sie wollten bestimmte Gebiete vom Reich loslösen oder doch absondern. Gegen solche Bestrebungen wandte sich am 25. November 1918 der Staatssekretär des Äußeren Wilhelm Solf. Er bezeichnete sie als "separatistische Eigenmächtigkeiten", die den Plänen Frankreichs entgegen kämen. Durch die Unterstützung des "Separatismus" hoffe Frankreich nämlich, das Reich zu zerstören. Mit der Bezeichnung Separatismus zielte Solf zu dieser Zeit noch nicht auf Bestrebungen in einem ganz bestimmten Gebiet, sondern auf alle Maßnahmen und Pläne, die ihm die Einheit des Deutschen Reiches zu bedrohen schienen. Schon wenige Wochen später sprach man aber in politischen Kreisen vornehmlich vom "rheinischen Separatismus". Wie war es dazu gekommen?

Die Idee eines selbständigen Rheinstaates

Am Rhein dachten und urteilten gegen Ende des Jahres 1918 viele Menschen anders als die verantwortlichen Politiker in Berlin. Schon kurz nach dem Waffenstillstand hatten die linksrheinischen Gebiete den Einmarsch französischer, englischer und belgischer Besatzungstruppen erlebt. Da Friedensverhandlungen noch nicht begonnen hatten, waren die Absichten der Siegermächte noch unklar. Besorgt fragte man sich am Rhein, was die Zukunft bringen würde. Bereits Anfang November hatten in Köln einige führende Mitglieder der rheinischen Zentrumspartei an die Errichtung eines Rheinstaates gedacht. Das Rheinland sollte sich aus seiner über hundertjährigen Zugehörigkeit zu Preußen lösen und ein selbständiger Bundesstaat im Deutschen Reich werden. Den Anstoß zu derartigen Überlegungen hatten die beiden Redakteure der "Kölnischen Volkszeitung", Froberg und Hoeber, gegeben. Diese befürchteten eine Annexion des gesamten linksrheinischen Gebietes durch Frankreich und sahen in  der Schaffung eines Rheinstaates eine wirksame Möglichkeit, den französischen Plänen zuvorzukommen. Die Existenz eines selbständigen Staates zwischen den erbitterten Gegnern Frankreich und Preußen, so argumentierten sie, würde dem französischen Bedürfnis nach Sicherheit entgegenkommen und damit die Gefahr einer Annexion entscheidend verringern.

Vielzahl von Gründen

Außer diesen Überlegungen führten die Anhänger eines Rheinstaates eine Vielzahl von Gründen an, die eine Lösung von Preußen rechtfertigen sollten. Immer wieder wiesen sie auf die chaotischen Verhältnisse in Berlin hin. Erbittert wandten sie sich auch gegen die Pläne des sozialistischen Kultusministers Adolf Hoffmann "Trennung von Staat und Kirche", "Befreiung der Schulen von jeder Kirchenbevormundung". Man befürchtete das Wiederaufleben des Kulturkampfes, der in den Jahren von 1872 bis 1878 das Verhältnis zwischen der preußischen Regierung und den rheinischen Katholiken ganz erheblich belastet hatte. Angesichts der traditionellen Stärke des vom Bürgertum getragenen rheinischen Zentrums würden in einem selbständigen Rheinland sozialistische und kommunistische Ideen keine Chance auf Verwirklichung haben.
In den folgenden Wochen wurden diese Gedanken im vertrauten Kreis lebhaft diskutiert. Einige der Beteiligten setzten sich dabei erfolgreich für eine Erweiterung des geplanten Staatsgebietes ein. Das benachbarte Westfalen sollte für eine Verbindung mit dem Rheinland gewonnen werden. Dadurch hoffte man die Lebensfähigkeit des neuen Staates wesentlich stärken zu können.

"Rheinisch-Westfälische Republik"

Am 4. Dezember 1918 traten die Zentrumsmitglieder Kastert und Dr. Hoeber erstmals mit ihren Plänen an die Öffentlichkeit. Auf einer von 5000 Bürgern besuchten Versammlung erklärte Dr. Hoeber als Hauptredner unter stürmischem Beifall, in Anbetracht der Unfähigkeit der Berliner Regierung müßten die Menschen am Rhein nun zur Selbsthilfe greifen. In einer gemeinsam gefaßten Entschließung forderten die Anwesenden dann die Vertreter aller Parteien in Rheinland und Westfalen auf, "baldigst die Proklamierung einer dem Deutschen Reich angehörigen selbständigen Rheinisch-Westfälischen Republik in die Wege zu leiten".

Befürworter und Gegner

Bereits am nächsten Tag berichteten die meisten deutschen Zeitungen ausführlich über die Kölner Bürgerversammlung. Die dort geäußerten Forderungen fanden ein sehr unterschiedliches Echo. Weite Kreise des rheinischen Bürgertums stimmten der Entschließung vom 4. Dezember zu. In der Vergangenheit hatte man oft bittere Erfahrungen mit dem preußischen Staatsapparat gemacht, der meist nur wenig Neigung zeigte, auf die Wünsche und Vorstellungen der Rheinländer einzugehen.

Andererseits war man sich aber auch der großen Leistungen Preußens für den wirtschaftlichen Aufschwung und die Einigung Deutschlands durchaus bewußt gewesen. Das Deutschtum blieb die Brücke, auf der sich Rheinländer und Preußen nach tiefen Mißverständnissen und schweren Kämpfen doch immer wieder begegneten, urteilt der Historiker Justus Hashagen. Die geachteten Autoritäten des alten Preußens waren jedoch nach der Revolution im November 1918 neuen Kräften gewichen, denen man zutiefst mißtraute. Der Ruf "Los von Berlin!" fand deshalb zahlreiche Anhänger. Diese waren zumeist Mitglieder des Zentrums, der stärksten bürgerlichen Partei im Rheinland.

Protestversammlung

Andere Parteien und andere Schichten der rheinischen Bevölkerung, ja sogar einige angesehene Zentrumsmitglieder, lehnten dagegen die Idee der "Rheinisch-Westfälischen Republik" mehr oder weniger scharf ab. Sie sahen in der Abtrennung von Preußen eine ernste Gefahr für die Einheit des Reiches. Die entschiedensten Gegner kamen aus der Arbeiterschaft, die sich von der Revolution einen sozialen Wandel zu ihren Gunsten erhoffte. In ihren Augen hatte die so offensichtlich vom Bürgertum ausgehende Abtrennungsbewegung einen gegenrevolutionären Charakter.

Bereits am 6. November trafen sich viele Gegner der Abtrennung auf einer Protestversammlung in Köln, die von der SPD eilends organisiert worden war. Redner aus verschiedenen Parteien bezeichneten die Pläne der großen Bürgerversammlung als "Verrat an der deutschen Volkseinheit". Der Widerstand, der sich hier andeutete, wurde zunächst weniger beachtet, sollte sich aber später noch als sehr wichtig erweisen.

"Separatismus" oder "Rheinische Bewegung"?

Verfechter der Rheinstaatsiddee sprachen 1918 von einer großen "Rheinischen Bewegung". Damit konnte der Eindruck entstehen, weiteste Kreise der rheinischen Bevölkerung stünden einmütig hinter der Idee. Berücksichtigt man aber die starke Gegnerschaft, die es auch im Rheinland gab, so ist festzustellen, daß die Bezeichnung "Rheinische Bewegung" kaum gerechtfertigt war. Andererseits haftete dem Wort "Separatismus", das die Gegner immer wieder gebrauchten, schon bald als Unterbedeutung der Vorwurf des Landesverrates an. Landesverräterische Absichten konnte man den Urhebern der Kölner Forderungen aber sicher nicht unterstellen. Sie handelten weitgehend aus einer echten Sorge um das Schicksal ihrer Heimat, wenn auch persönliche Motive mitspielen mochten. Durch die Abtrennung von Preußen sollte dem Rheinland eine begrenzte staatliche Selbständigkeit innerhalb Deutschlands gesichert werden, vergleichbar etwa der Stellung, die das Land Nordrhein-Westfalen heute innerhalb der Bundesrepublik hat. Eine Loslösung vom Deutschen Reich kam nicht in Betracht. In Bezug auf die Befürworter einer "Rheinisch-Westfälischen Republik", wie sie am 4. Dezember 1918 in Köln gefordert wurde, darf daher das Wort "Separatismus" nur in seinem eigentlichen Sinn (Bestrebung nach Abspaltung eines bestimmten Gebietes aus einem Staatsganzen, hier gemeint Preußen), benutzt und verstanden werden.
Erst im Jahre 1919 wurden dann auch Bestrebungen bekannt, für deren Ziele der Vorwurf des Landesverrates mit einer gewissen Berechtigung erhoben werden konnte. Darüber wird noch zu berichten sein.

Fortsetzung folgt.


Das Kampfgelände bei AegidienbergBlick von Himberg auf Aegidienberg
21.10.1973
Honnefer Volkszeitung