Rheinlands Schicksalstage

Die Vorgänge in Bonn, Düren, Trier und Krefeld.
Der Sonderbündler-Vormarsch.

Mtb. Köln, 22. Okt.(Drahtbericht.) Wie aus Aachen gemeldet wird, fanden heute vormittag über das Verlangen der Sonderbündler auf Unterstellung der Aachener Zeitungen unter Zensur Verhandlungen mit den Zeitungsverlegern statt. Leo Deckers erklärte dem Journal zufolge, daß der Marsch nach Norden fortgesetzt werde. Die Sonderbündler würden gleichzeitig auf Gladbach und zur Eifel marschieren und auf Coblenz vorstoßen. Eine Kolonne werde auf Krefeld und Düsseldorf vorgehen. Der Belagerungszustand werde verhängt werden, um gegen Angriffe der äußersten Rechten und äußersten Linken gesichert zu sein. Der Adjutant des belgischen Oberkommandierenden, General Rucquoy, sei bereits am Samstag von dem Vorhaben unterrichtet worden. Er (Deckers) und seine Freunde seien keine belgischen und französischen Agenten. Die Separatisten seien Deutsche und würden lieber ihr Blut hingeben, als sich annektieren zu lassen.
Im einzelnen liegen aus dem Rheinland folgende Nachrichten vor: In Stolberg verhält man sich einstweilen passiv. Der Bürgermeister erhielt von Deckers die telegraphische Mitteilung, er werde dringend und höflichst gebeten, den Dienst weiter zu versehen.

In dem benachbarten Büsbach wurde die Verwaltung von den Sonderbündlern übernommen, die den Dienst versehen und den Belagerungszustand verhängt haben.

In Jülich ist der Versuch, die Rheinische Republik auszurufen, an dem Widerstand der Behörde gescheitert, sodaß die Separatisten unverrichteter Sache weitergezogen sind.

In Erkelenz wurde auf dem Landratsamt und Bürgermeisteramt die separatistische Flagge gehißt. Die Verwaltung steht unter sonderbündlerischer Leitung.

In Eschweiler verhandelten bereits gestern nachmittag Sondernbündler mit der Stadtverwaltung. In den Morgenstunden trafen Lastautos mit Sonderbündlern ein.

In Bonn ist die Lage unverändert.

In Euskirchen wurde gestern eine Sonderbündlerversammlung abgehalten, in der Dr. Kremers sprach und die Ausrufung der Rheinischen Republik ankündigte. Zu Ruhestörungen kam es nicht.

In Rheydt sind große Menschenansammlungen. Einige Sonderbündler sind eingetroffen, doch herrscht noch Ruhe.

Mtb. Brüssel, 22. Okt.(Drahtbericht.) Den offiziellen Meldungen der Agence Belge über die Aachener Vorgänge entnehmen wir folgende Einzelheiten: Am Sonntag vormittag wurde der belgische Ministerrat eiligst zusammengerufen, um über Drahtungen über Ausrufung der Rheinischen Republik in der belgischen Zone zu beraten. Von elf Ministern waren nur sieben anwesend. Der Ministerrat hörte das Referat des Außenministers Jaspar und des Kriegsministers an und hat Instruktionen beschlossen, die dem Kommandanten der belgischen Besatzungstruppen und dem belgischen Oberkommissar im Rheinland übersandt wurden, deren Inhalt aber streng geheim gehalten wird.

Aus den belgischen Meldungen ist noch zu erwähnen, daß durch einen Aufruf der vorläufigen Regierung in Aachen der Bevölkerung Lebensmittel und Arbeit zugesichert worden sei. Weiter wird gemeldet, daß die Separatistenbewegung die Tendenz habe, sich von Aachen aus nach dem Rest der belgisch besetzten und nach der englischen Zone und auch nach der französischen Zone auszudehnen. Nach den verschiedensten Städten des Rheinlandes seien von Aachen aus kleine Truppen von Sonderbündler gesandt worden.

Nach den letzten Meldungen ist der belgische Oberkommissar in Aachen eingetroffen. Er soll dem Führer der Bewegung erklärt haben, daß sich Belgien zwar mit ihr einverstanden erkläre, daß aber die Führer der Separatisten für die Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung verantwortlich gemacht würden.

Mtb. Berlin, 22. Okt.(Drahtbericht.) Wie ein Berliner Montagsblatt meldet, ist am Samstag die Bonner Schutzpolizei von bewaffneten Separatisten entwaffnet worden. Die Reichsregierung habe von diesem Vorgehen Kenntnis erhalten und eine Note an die französische Regierung gerichtet. Poincare habe am Sonntag darauf geantwortet, er habe bereits Anordnungen getroffen, daß die Bonner Polizei ihre Waffen wieder erhalte. In der Antwort Poincares finde sich folgender Satz: Die Bonner Polizei dürfe aber nicht auf harmlose politische Demonstranten schießen.

Bonn, 23. Okt.(Drahtbericht.) Vergangene Nacht zogen die Separatisten zum Rathaus, um dasselbe zu besetzen. Die Feuerwehr verteidigte dasselbe mit Wasserspritzen, doch gelang es den Separatisten, die Oberhand zu bekommen und das Rathaus zu besetzen. Die Rheinische Republik wurde auch hier ausgerufen. Als einer der Führer der Separatisten wird der Bonner Architekt A. Natter genannt. Wegen der Weiterführung der Geschäfte schweben mit der Stadtverwaltung Verhandlungen, desgleichen ist noch ungewiß, ob die Zeitungen heute erscheinen können.

Ueber die Vorgänge in Bonn meldet uns noch Mirbachs Tel.=Büro:

Mtb. Bonn, 22. Okt.(Drahtbericht.) Die Ausrufung der Rheinischen Republik ist heute nacht erfolgt und zwar unter dem Schutze der Franzosen, nachdem die Feuerwehr zunächst die Separatisten, die gegen das Rathaus anzustürmen versuchten, mit der Spritze abwiesen.

Bonn, 23. Okt.(Drahtbericht.) Auf dem hiesigen Rathaus wurde die grün=weiß=rote Fahne gehißt. Der Markt ist von farbigen und weißen Franzosen besetzt. Sämtliche Zugänge zum Markt sind gesperrt. Französische Truppen ziehen mit aufgepflanztem Bajonett durch die Straßen. Ein Aufruf der Sonderbündler besagt u. a., die Gewalt sei in ihren Händen. Sie würden das Eigentum schützen, für Ruhe und Ordnung sorgen, und nach Möglichkeit Lebensmittel beschaffen. Die Geschäfte seien wie gewöhnlich offen zu halten.

In Trier.

Mtb. Trier, 23. Okt.(Drahtbericht.) Nach ihrem mißglückten Versuch, die Rheinische Republik auszurufen, und sich der öffentlichen Gebäude zu bemächtigen, haben die Separatisten den Prälaten Dr. Kaas, Kommerzienrat Rautenstrauch und Redakteur Reese verhaftet und nach Limburg abtransportiert. Da man für die Nacht einen Gewaltstreich der Sonderbündler erwartete, ist die Polizei in Alarmbereitschaft auf dem Rathaus.

Mtb. Trier, 23. Okt.(Drahtbericht.) Aus Trier wird der K. V. geschrieben, daß die Entführung der genannten Persönlichkeiten im bischöflichen Auto erfolgte, das im Kloster der barmherzigen Brüder beschlagnahmt wurde. Die Sonderbündler, vorwiegend junge Leute, durchstreifen die Stadt und beschlagnahmten Kraftwagen. Gegen abend 7 Uhr hat einer kleiner Zug von Separatisten das Reichsvermögensamt in Trier besetzt, und die Beamten daraus verwiesen.


Aus weiteren rheinischen Städten.

Mtb. Krefeld, 23. Okt.(Drahtbericht.) Zwischen den Separatisten und dem Oberbürgermeister fanden Verhandlungen statt. Von den Separatisten wird gefordert, daß die Polizeibeamten sämtliche Waffen abgeben; die Verwaltung könne nur unter sonderbündlerischer Leitung weiter arbeiten. Der Oberbürgermeister wies allle Forderungen zurück und äußerte seine Bedenken, daß die Stadt nicht mehr kreditfähig sein werde. Darauf wurde von den Sonderbündlern erklärt die Stadt bekäme Geld von Amerika. Sonst ist noch alles ruhig.

Mtb. Düren, 23. Okt.(Drahtbericht.) Gestern nachmittag gegen 2 Uhr wurde das Landratsamt, das Rathaus, das Postamt, die Reichsbank, sowie die anderen öffentlichen Gebäude von den Separatisten besetzt. Am Balkon des Rathauses wurde die grün=weiß=rote Fahne angebracht. Französische Patrouillen schreiten durch die Stadt, verhalten sich aber neutral.

Mtb. Eschweiler, 23. Okt.(Drahtbericht.) Die Separatisten haben sich hier wieder zurückgezogen, und alles ist wieder ruhig. Wie von einem Führer der Separatisten mitgeteilt wurde, haben sie von der Zentrale in Koblenz aus die Weisung erhalten, kein Blut zu vergießen, wo die Polizei sich hartnäckig weigere, wie das hier der Fall war, und von allen Gewaltmaßnahmen Abstand zu nehmen.

Mtb. Viersen, 23. Okt.(Drahtbericht.) In Viersen ist die Rheinische Republik ausgerufen worden.

Mtb. Mainz, 22. Okt.(Drahtbericht.) Zu den Vorgängen in Mainz wird gemeldet, daß ein Trupp der Separatisten das fünfte Polizeirevier zu stürmen suchte. Deutscher Polizei gelang es jedoch, den Angriff abzuschlagen. Nach einer Rücksprache mit dem französischen Kommandanten ließ der Oberbürgermeister die Anführer der Separatisten verhaften.

Ein Aufruf der politischen Parteien der Rheinlande.

Mtb. Köln, 23. Okt.(Drahtbericht.) Die deutschen politischen Parteien des Rheinlandes veröffentlichen folgenden Aufruf:
Rheinländer! Vertraut auch in diesen schwersten Tagen unseres Landes euren Führern! Habt Vertrauen zu den volitischen Parteien! Sie sind sich ihrer Aufgabe bewußt und werden ihre Pflicht tun. Größer denn je ist gegenwärtig die auf uns allen lastende Verantwortung.
Deutsche Demokratische Partei.
Deutschnationale Volkspartei.
Deutsche Volkspartei.
Sozialdemokratische Partei.
Zentrumspartei.

Mtb. Aachen, 23. Okt.(Drahtbericht.) Die Beamtenschaft, die organisierten Gewerkschaften und politischen Parteien Aachens erklären einmütig, daß für die rheinische Bevölkerung vorbehaltlich der Wahrung der Rechte der Besatzungsbehörde, nur die Reichs- bezw. preußische Regierung und ihre Anordnungen maßgebend sind. Verhandlungen mit denen, die sich der Regierung abwenden wollen, seien ausgeschlossen.

Das Kabinett tritt zusammen.

Mtb. Berlin, 23. Okt.(Drahtbericht.) Das Reichskabinett ist gestern infolge der Meldungen aus dem Rheinland zusammengetreten. Ueber den Beschluß verlautet noch nichts. Auf Anregung Württembergs findet am Mittwoch eine Sitzung des Reichsrates statt, um zur gegenwärtigen Lage Stellung zu nehmen. Der Reichsrat stimmte gestern dem Arbeitszeitgesetz gegen die Stimmen Sachsens und Thüringens zu.

Englands Stimme.

Mtb. London, 23. Okt.(Drahtbericht.) Pall Mall Gazette kommentiert die rheinische Separatistenbewegung wie folgt: Zur Stunde kann es möglich sein, daß die Auflösung Deutschlands in drei bis vier Bruchstücke bereits vollzogen ist. Die letzten Möglichkeiten für England, Reparationen von Deutschland zu erhalten, werden vernichtet. Baldwin wird diese Woche das Wort ergreifen. Ob es ihm möglich sein wird, endlich zu sagen, welches seine Politik ist oder hat er überhaupt keine Politik?
*
Mtb. Paris, 22. Okt.(Drahtbericht.)„Echo de Paris“ erklärt, Frankreich übernehme für das, was sich ereignet habe, keine Verantwortung. Der Putsch sei ein Beweis für das fortschreitende Verschwinden der deutschen Autorität und eine Folge des Elends, das durch den passiven Widerstand verursacht sei. Das neue Problem werde man nach Verdienst beurteilen, d. h. nach den Entschädigungs- und Sicherheitsleistungen.


23.10.1923
Honnefer Volkszeitung